Bruder Eichmann

Premiere

Bruder Eichmann

von Heinar Kipphardt

29. Oktober 2002
Theater an der Universität Regensburg

 


Besetzung

Adolf Eichmann Hans Schröck
Leo Chass Michael Boßle
Frau Eichmann, Frau Hull Steffi Kastl
Pfarrer Hull Helge Stadler
Psychiater Christian Mitzkus
KZ-Häftling, Musik und Kameramann Jan Nas
KZ-Häftling Frank Schlüter
Conferencier Thomas Hoffmann
Sprecher/innen Richard Schneider, Elke Kistner, Liesa Drexler, Sigrid Grün
Recherche Hans Ludsteck
Regie, Licht und Videoinstallationen Kurt Raster

Presseinfo

Bruder Eichmann

Die neu gegründete Schauspielgruppe ueTheater präsentiert ihr erstes Stück

Adolf Eichmann (1906 – 1962) war im Dritten Reich als Leiter des Judenreferats eine der zentralen Figuren bei der „Endlösung der Judenfrage“. Er war zuständig für die Enteignung und Deportation der Juden in die Konzentrationslager. 1950 flüchtete er von Italien nach Argentinien, wo ihn der israelische Geheimdienst 1960 aufspürte und nach Israel brachte. In Jerusalem wurde Eichmann vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Heinar Kipphardt verarbeitete 1982 das Leben und den Prozeß Eichmanns zu seinem Schauspiel „Bruder Eichmann“. Er stützte sich im Wesentlichen auf Vernehmungsprotokolle, Eichmanns Prozeßaussagen und Erinnerungen Beteiligter. Eichmann gab vor, ein ganz normaler Mensch zu sein, der politisch uninteressiert gewesen sei und nur durch das verbrecherische System selbst zum Verbrecher wurde. Er sei nur ein „Rädchen im Getriebe“ gewesen und daher frei von jeglicher Schuld. Eichmanns Aussagen setzte Kipphardt Szenen aus dem aktuellen gesellschaftlichen Geschehen gegenüber und zeigte damit, daß die Spezies der „unschuldigen“ Massenmörder noch lange nicht ausgestorben ist.

Das neu gegründete ueTheater hält sich an Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral, oder anders ausgedrückt: die ökonomische Basis bedingt den gesellschaftlichen Überbau (Staat, Parteien, religiöse Ideen, künstlerische Vorstellungen usw.). Die herrschenden Verhältnisse sind nicht gottgegeben, sondern menschengemacht und daher veränderbar. Und eine Welt, in der täglich 25 000 Menschen an Hunger sterben, muß verändert werden. Es ist die Aufgabe des Überbaus, den Ohnmächtigen eine Stimme zu geben. Deshalb nennt sich die Gruppe ue(berbau)Theater.


Kritik

Mittelbayerische Zeitung, 4. November 2002

Die Ausflüchte des Massenmörders

„ueTheater“ provoziert mit „Bruder Eichman“. Von Ralf Tautz

Regensburg. Ein hagerer Mann in Strickjacke und Pantoffeln fegt den Boden seiner kargen Zelle. „Zählen, gehen, vergleichen..." philosophiert er wirr vor sich hin. Er erinnert sich, wie er als Kind Pilze gesucht hat, rechtfertigt sich als Rädchen im Getriebe. Ein akkurater Beamter, der in etwas hineingeraten ist, was er nicht versteht. Man möchte Mitleid mit ihm haben, wüsste man nicht, dass er ein Massenmörder ist.

In „Bruder Eichmann" verarbeitete Heinar Kipphardt 1982 die Protokolle im Prozess gegen Adolf Eichmann zu einem Schauspiel und entlarvt darin die perfiden Ausreden, die sich Eichmann einfallen ließ, um sich der Mitverantwortung am Massenmord zu entziehen. Eichmann war im dritten Reich als Leiter des Judenreferates an der Vergasung der Juden beteiligt. Er war zuständig für die Enteignung und Deportation der Juden in die Konzentrationslager. 1962 wurde er in Israel zum Tode verurteilt und hingerichtet.

„Bruder Eichmann" hatte Premiere im Unitheater. Es ist die erste Regiearbeit von Kurt Raster und die erste Aufführung des neu gegründeten „ueTheaters".

Die Inszenierung kann man nicht „schön“ nennen, denn sie geht unter die Haut, sie provoziert und wirft unangenehme Fragen auf. Eindrucksvoll vermittelt Hauptdarsteller Hans Schröck die emotionale Kälte Eichmanns und seine Dreistigkeit, mit der er sich als unschuldiger Vollzugsbeamter darstellt. „Ich habe weder den Krieg noch die Deportation befohlen und konnte auch beides nicht stoppen“, verteidigt sich Eichmann im Verhör mit Leo Chass, einem israelischen Hauptmann (Michl Boßle). Eichmann gibt sich als ganz normaler Mensch, als braver Beamter, als einer unter vielen.

Er versucht sich aus der Rolle des Angeklagten in die Rolle des Zeugen zu drängen. Ohne Gefühlsregung erläutert er wie ein Schulmeister die Entscheidungswege im Dritten Reich. Er, der nur vollziehender Beamter war, habe mit dem was geschehen ist, nichts zu tun.

Der Autor bleibt an dieser Stelle nicht stehen, sondern zieht Analogien in die heutige Zeit. Raster wirft erschreckende Bilder auf die Leinwand hinter Eichmanns Zelle und fügt Texte hinzu, die unter dem Eindruck der Bilder in einem anderen Licht stehen.

Die Vergleiche, die der Regisseur zieht, mögen bisweilen völlig überzogen, ja beleidigend sein. Und dennoch bleibt eine Frage im Raum: Wie will man den täglichen Krieg, Hunger und das Unrecht rechtfertigen, ohne selbst in menschenunwürdige Ausreden zu verfallen? Sprachlos bleibt der Zuschauer zurück, wenn er die Aufnahmen von verhungerten Kindern im Warschauer Ghetto neben den Bildern aus den Hungergebieten Afrikas sieht. Sie unterscheiden sich nicht, nur, dass heute die Kinder schwarz sind.

Die provokanten Vergleiche ließen erwarten, dass die Zuschauer sich darüber aufregen würden. Aber das Gegenteil war der Fall: Die meisten der rund 50 Premieren-Besucher waren tief beeindruckt. „Ein wichtiges Stück“, meinte einer der Zuschauer.


Anmerkung

Künstlerisches Anliegen

"Das Stück zeigt, wie in der Eichmann-Haltung die Soldatenhaltung und die funktionale Haltung des durchschnittlichen Bürgers überhaupt steckt, die Haltung, Gewissen sei an die Gesetzgeber und an die Befehlsgeber delegiert. Genauer gesehen zeigt sich, daß die Eichmann-Haltung die gewöhnliche Haltung in unserer heutigen Welt geworden ist, im Alltagsbereich wie im politischen Leben, wie in der Wissenschaft - von den makabren Planschpielen moderner Kriege, die von vornherein in Genozid-Größen denken, nicht zu reden." Heinar Kipphardt

Irmtraud Wojak veröffentlichte 2001 das Buch "Eichmanns Memoiren - Ein kritischer Essay". Darin widerspricht sie der üblichen Anschauung, Eichmann sei nur ein blinder Befehlsempfänger gewesen, ein "Rädchen im Getriebe", wie er sich selbst bezeichnete. Wojak führt als Beleg Interviews an, die Eichmann in Argentinien gab. Darin sagt er: "Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen."

Es war Eichmanns Verteidigungstaktik, seine einzige Schuld darin zu sehen, blind Befehle befolgt zu haben. Er geht sogar soweit, sich selbst als Opfer zu stilisieren. Er sei Opfer seiner"Götter" geworden, die er später, nachdem er erkannt habe, daß sie ihn betrogen hätten, "Götzen" nannte.

Man muß es leider so sagen, Kipphardt ist Eichmann auf den Leim gegangen. Menschen a lá Eichmann sind keine kleinen Rädchen. Eichmann war ein äußerst ergeiziger Täter in einer maßgeblichen Position, der genau wußte, daß er mordet: "Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden, die Korherr ausgewiesen hat, wie wir jetzt wissen, 10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut wir haben einen Feind vernichtet." sagt Adolf Eichmann in einem Interview in seinem argentinischen Versteck.

Kipphardt verdeutlicht seine Vorstellung von Eichmanns Haltung unter anderem mit den Aussagen eines Bomberpiloten, der Einsätze in Vietnam fliegt. Auf die Frage einer Reporterin, ob ihn zivile Ziele beunruhigen würden, antwortet dieser: "Ich habe nie darüber nachgedacht, es ist nicht meine Sache, ich bin der Captain dieser B-52, der seine Arbeit macht. Es ist viel Routine." Stimmt das? Denkt er wirklich so?

Ist es nicht wahrscheinlicher, daß er nur zur Journalistin so spricht? Hätte er nicht genauso geantwortet, auch wenn er ganz etwas anderes denkt, um einen Skandal zu vermeiden? Zu seinen Kameraden wird er vielleicht sagen: "Heute hab ich wieder 100 Schlitzaugen gebraten. Das hättet ihr sehen sollen." Oder ähnlichen Quatsch. Den Triumph über den Feind hat noch jeder Soldat geil gefunden, nicht erst seit Abu Graib.

Warum würde der Bomberpilot einen Skandal verursachen, wenn er öffentlich bekundete, es mache ihm Spaß, es erfülle ihn mit Sinn, ja, es sei das höchste der Gefühle, Menschen umzubringen? Wegen der so oft geschmähten Political Correctness. Die öffentliche Meinung findet Menschenumbringen nicht korrekt. Nur wenn politisch korrekte Sachzwänge vorgeschützt werden können, werden Menschenopfer akzeptiert. Wer wacht über die Political Correctness? Wer stellt die Kriterien auf? Kunst! Unter anderem.

Eichmann war kein Schreibtischtäter, Eichmann war ein Massenmörder, der an entscheidender Stelle saß. Und jeder andere, der an entscheidender Stelle sitzt, und dessen Entscheidungen ungezählte Tote zur Folge haben, ist ein Massenmörder.

Wir zeigen mit unserer Interpretation von Kipphardts Stück mit dem Finger auf die Mächtigen. Ein IWF-Chef, der ein armes Land zwingt, öffentliche Ausgaben für das Gesundheitswesen zu kürzen, ist ein Eichmann. Jeder Regierungschef, der Geld für Rüstung ausgibt statt für die Entwicklung hungernder Länder, ist ein Eichmann. Jede Umverteilung von unten nach oben hat in der Konsequenz Massenmord zur Folge. Es gibt keinen Sachzwang, der Menschenopfer rechtfertigt. Dazu ist unsere Gesellschaft zu reich.

Jeder heutige Eichmann soll wissen, daß wir wissen, daß er mordet.


Szenenbilder