großer bruder 2010 (I)

Premiere

großer bruder 2010 (I)

Ein Endzeitstück über die Gegenwart

16. Juli 2004
Theater an der Universität Regensburg

 


Besetzung

Moderation Angie Riecks
Dada Evi Kienberger
John Michael Baade
Dr. Wolfgang Berger Michl Boßle
Martha Hedwig Veronika Winter
Leo Kai Wolf
Mandy Barbara Schmid
Regie, Bühne, Licht Kurt Raster

Presseinfo

großer bruder 2010

Erste Eigenproduktion des ueTheaters

Der Plot

Wir schreiben das Jahr 2015. Sechs Menschen, drei Frauen und drei Männer, erwachen in einem unbekannten Raum. Sie wissen nicht, wie sie an diesen Ort gekommen sind. Auch stellen sie zu ihrer Bestürzung fest, daß es keinen sichtbaren Ausgang gibt. Verschiedene Theorien werden entwickelt. Irgendwann klärt sie die Moderatorin Philharmonia über ihre Lage auf. Sie befänden sich in einer neuen Art von Spielshow, die dem alten Big Brother-Format nachempfunden sei, allerdings mit etwas abgeänderten Spielregeln. Ihre Aufgabe sei es, diese neuen Spielregeln herauszufinden. Nach anfänglicher Fassungslosigkeit gewöhnen sich die Insassen aneinander und wehren Schikanen gemeinsam ab. Der erste Tote kippt die Harmonie.

Eine Utopie?

Im Jahre 2015 kommt die Saat der Schröderschen "Agenda 2010" zur vollen Blüte. Die Gesellschaft ist bis zur Kenntlichkeit degeneriert. Überleben ist eine Kostenfrage, kein Grundrecht. Die Zeiten sind allgemein ehrlicher geworden, kein moralisches Rumgelabere mehr. Artikel 2 des Grundgesetzes "Jeder hat das Recht auf Leben" wurde ersatzlos gestrichen. Wer Geld hat überlebt, nicht wer ein humanoides Aussehen hat.

Und warum? Nicht weil die Menschen so sind, sondern weil eine Handvoll Menschen so ist: pathologisch egoistisch. Unser Gesellschaftssystem spült diese krankhaft geldgierigen Menschen nach oben. Gerade werden Eliteuniversitäten auf den Weg gebracht, Eintrittskarte: Geld. Das Gesundheitswesen wird privatisiert. Das Medikament der Zukunft: Geld.

Och, Sie haben Krebs? Das ist aber schön für uns, falls Sie das nötige Kleingeld haben. Wir haben zur Auswahl: Chefarztbetreuung, Krankensuite in bester Lage, Fünfsterne-Küche etc. Oh, Sie haben kein Geld? Na, dann hätten wir hier ein paar Euthanasie-Tabletten. Sie wollen doch der Gesellschaft nicht länger zur Last fallen, oder?

Das Stück ist keine Utopie. Wir leben in einer perversen, obszönen Welt, in der Menschen millionenfach sterben, weil sie einen Euro zu wenig für Essen, Medikamente oder Kleidung haben. Wir leben in einer perversen, obszönen Welt, in der ein Bruchteil der europäischen Rüstungsausgaben - Europa gibt nach Amerika am meisten für Rüstung aus - reichen würde, den Schandfleck dieses unschuldigen Sterbens aus der Welt zu schaffen.

Warum geschieht dies nicht?


Dokumentation

Textauszüge

aus I. Akt, 1. Szene

JOHN: Echt fette Bude!

MANDY: Wau! Ich war noch nie in so einer tollen Wohnung!

LEO: Der muß mächtig was auf der Kralle haben!

DADA: Mafiabude! Mit Arbeit kommste an sowas nicht ran!

BERGER: Vielleicht ein Politiker?

MARTHA: Ich tippe auf Banker.

MANDY: (im Außenbereich) Hey, hier gibt's ein Planschibecken und Liegen und Sonnencreme!

LEO: ( in der Küche) Hier ist ein Kühlschrank! Leider nur was zu trinken drin.

JOHN: Trinken reicht doch!

LEO: Mineralwasser!

JOHN: Scheiße!

DADA: (deckt ein Trimmdichrad ab) Und damit die Herrschaften kein Fett ansetzen, gibt's auch super Trimmspaß!

JOHN: Boey! Laß mich mal ran! (schwingt sich auf das Rad) Und in der letzten Kurve überholt er das ganze Feld und gewinnt zehn kostenlose Arztbesuche!

MANDY: Au Spitze! Will der Sieger ein Küßchen?

JOHN: (wehrt ab) Ne du! Ich glaube, dein Verfallsdatum ist schon abgelaufen! (alle schauen ihn eher überrascht als vorwurfsvoll an)

MANDY: Du bist gemein! (peinliche Pause)

JOHN: Sorry. Ist mir so rausgerutscht. Tut mir leid.

MANDY: Schon gut. Ich bin hart im Nehmen.

DADA: Ich sag immer: Lieber reif und süß, als grün und sauer!

MARTHA: Der Arme! Jetzt ist er doch tatsächlich rot geworden! (Frauen lachen)

BERGER: Ich unterbreche ja nur ungern ihre fröhliche Runde, aber ich sehe keinen Ausgang.

DADA: Wie?

BERGER: Ich sehe keinen Ausgang. Keine Tür, keine Öffnung, nichts! Aber irgendwie müssen wir doch hereingebracht worden sein!

MARTHA: Stimmt. Es gibt auch kein Telefon.

MANDY: Vielleicht 'ne Geheimtür. Durch den Kühlschrank durch oder so...

DADA: Die Wände sind seltsam, aber einen Eingang sehe ich nicht.

JOHN: Vielleicht wurden wir... wie hieß das doch gleich... gestreamt oder so...

MARTHA: Klar, wohl zuviel Filme gesehen?

JOHN: Ich mein ja nur...

MARTHA: Und wenn wir vergessen worden sind?

BERGER: Wir sollten um Hilfe rufen!

MANDY: Eine gute Idee, also alle zusammen: Hilfe! (sie horchen)

BERGER: Nichts!

DADA: Vielleicht sollten wir 'Feuer' rufen? Auf Hilfe reagiert doch nie einer.

(...)

LEO: Ich werde bestimmt nicht zu einer Party bei den Reichen und Schönen eingeladen! Und ihr? Hat von euch jemand Kohle?

BERGER: Nein, natürlich nicht! Und Sie?

DADA: Laß doch das 'Sie'! Ich hab nichts.

MARTHA: Ich auch nicht.

MANDY: Ich hatte mal einen an der Angel, zumindest tat er sehr reich, na ja, wie gesagt, hatte...

JOHN: Ich hab eine Villa in Madeira, fünf Ferraris in der Garage, 'ne richtig fette Stereoanlage, eine Yacht, ne, zwei Yachten und jede Menge Chicks, ich meine Frauen (lacht)

DADA: Ich glaube, da kuckt einer zuviel Werbefernsehen...

JOHN: Hast recht, ich komm auch grad so über die Runden.

LEO: Erpressung scheidet also aus. Sonstige Vorschläge?

BERGER: Aber wir wurden gekidnappt! Das steht außer Frage. Wir wurden betäubt, im Schlaf, und dann aus irgendeinem Grund hierher gebracht.

JOHN: Vielleicht sind wir Opfer eines Versuchungsprojekts?

BERGER: Eines soziologischen Experiments meinen Sie?

DADA: Ich denke, unser Sunnyboy hat da gar nicht so unrecht. Wir sind eingesperrt, aber es ist kein Gefängnis. Wir wurden gekidnappt, aber keiner von uns hat Geld. Was bleibt sonst noch übrig?

BERGER: Wenn Herrn Johns Theorie stimmt, werden wir jetzt, in diesem Moment beobachtet. Aber ich sehe keine Kameras.

LEO: Die Wände sind doch merkwürdig. Vielleicht sind sie von außen durchsichtig? (Leo steht auf)

MANDY: (springt auf und geht ebenfalls zu einer Wand) Hey, ihr glaubt wirklich, so ein sadistischer Spanner schaut uns jetzt gerade zu? Geil!

JOHN: Wie wär's mit 'nem kleinen Strip? Vielleicht lassen sie dich dann raus?

MARTHA: Sie sind ordinär!(Geht auch zu einer freien Wand)

DADA: Aber, aber! Gegen einen ordentlichen Frauenstrip ist doch nichts einzuwenden.

JOHN: Ich pack's nicht! Eine Lesbe!

DADA: Genau. Und was jetzt kommt, kenn ich schon: Nein, du darfst nicht zukucken! (geht zur letzten freien Wand. John folgt ihr)

JOHN: Kein Problem! Viel Platz zum Verstecken ist ja nicht...

BERGER: (geht zu Mandy) Erkennen Sie etwas?

MANDY: Nö, ich weiß nicht...

LEO: He, du da draußen. Schon mal gehört, daß anstarren aggressiv macht!

MARTHA: Aggressiv? Mir macht es Angst!

LEO: Stimmt! Und wer Angst hat, schlägt zu.

MANDY: Ich habe keine Angst vor Menschen. Es ist doch schön, wenn sich Menschen für andere Menschen interessieren!

LEO: Jemand hat uns gekidnappt und hier eingesperrt. Das finde ich nicht gerade menschenfreundlich.

JOHN: Im Moment wissen wir doch noch gar nichts! (Stille, alle starren das Publikum an)

MARTHA: Mir ist unheimlich...

(...)

JOHN: Habt ihr gehört, es gibt Geld!

BERGER: Das ist doch jetzt nicht wahr!

DADA: Ich soll mich für so einen Scheiß freiwillig gemeldet haben... (setzt sich und starrt vor sich hin)

LEO: Du weißt ja nicht, was in deinem letzten Jahr passiert ist. Vielleicht hattest du finanzielle Probleme?

DADA: Die habe ich ständig... außerdem würde ich dann eher 'ne Bank überfallen.

JOHN: Vielleicht hast du ja eine überfallen? Vergiß nicht, die haben dir ein Jahr geklaut!

MARTHA: Begreift ihr nicht! Wir werden die ganze Zeit beobachtet! Einfach so! (Martha wandert von einem Ort zum anderen, im hoffnungslosen Versuch, sich zu verstecken)

BERGER: Einfach so zum Spaß, erbärmlich...

JOHN: Was habt ihr euch so? Ihr seid freiwillig hier und es gibt Geld. Was soll also die Aufregung?

BERGER: Wir sollten unsere Briefe lesen. (während alle zu ihren Betten gehen, wechselt das Licht auf Mandy)

MANDY: (sitzt auf ihrem Bett und liest ihren Brief vor) Liebe Mandy, schon komisch, an sich selbst zu schreiben. Irgendwie schizo. Die vom Sender haben mir gesagt, ich soll an mich schreiben, wie an eine gute Freundin. Also, Mädchen, halt die Ohren steif. Leider darf ich dir nichts über die Spielregeln erzählen. Das gehört schon zum Spiel, daß man die selber rausfinden soll. Sie sagen, das Publikum findet sowas geil, wenn die Insassen keine Ahnung haben und erst so nach und nach dahinterkommen. Aber, was red ich, bestimmt hast du Glück, und du bist der... tja leider darf ich dir das auch nicht schreiben.
Im letzten Jahr ist was Dummes passiert. Glaub mir, du hast keine Wahl. Dieses Spiel ist deine einzige Chance. Wir haben uns wirklich freiwillig gemeldet.
Man sagte mir, ich soll etwas schreiben, was nur wir zwei kennen, damit du das Ganze auch glaubst. Weißt du noch, was unser lieber Papa von uns verlangte? Ja, das wissen nur du und ich. (das Licht geht wieder an, alle sitzen mit ihren Briefen irgendwo)

BERGER: Was muß passiert sein, daß man sich für so ein Spiel meldet... ein Jahr... weg!

DADA: Meine Tochter kennt mich vielleicht gar nicht mehr! Was weiß ich, wo sie sie hingebracht haben!

LEO: Komm, reiß dich zusammen. Dir fehlt ein Jahr, nicht deiner Tochter. Vielleicht schaut sie ja gerade zu? (Dada steht unsicher auf und geht zu einer Wand)

MARTHA: Meine Mutter... sie ist alt... und braucht Pflege...

JOHN: Also bevor hier das große Geheule losbricht: Ihr seid sicher nicht einfach so losgezogen! Wahrscheinlich sorgt das Fernsehen für sie.

MANDY: Auf mich wartet keiner, keiner, der wichtig wäre.

JOHN: Kein Zuhälter, kein Gerichtsvollzieher?

MANDY: Kein Zuhälter und kein Gerichtsvollzieher. Bei Mandy gibt's nichts mehr zu pfänden...

DADA: (zur Wand) Sarah, Sa... Ach Scheiße, ich kann mit keiner Wand sprechen...

JOHN: Stimmung! Wir sind jetzt wichtig! Alle Welt interessiert sich für uns! Ist das nicht toll!

DADA: Die Welt kann mich am Arsch lecken!

JOHN: Hey, du hast gerade die gesamte Menschheit beleidigt! Hallo Welt, Sorry für meine Kollegin, sie meint es nicht so!

DADA: Natürlich mein ich das so! Aber keine Angst, Sunnyboy, die schneiden raus, was sie nicht hören wollen.

LEO: Meinst du? Hey Welt! Laß dich nicht länger verarschen! Mach endlich die Revolution! Auf drei! Eins...zwei...drei! (lauscht) Hört ihr was?

DADA: Sag ich doch: rausgeschnitten

(...)

LEO: Wir verkaufen uns doch alle! Die, die kein Geld haben, verkaufen sich den Geldsäcken. Wir haben uns dem Sender verkauft!

MANDY: Das seh' ich aber anders! Es ist doch schön hier!

LEO: Warum glaubst du, daß du hier bist?

MANDY: Sicher brauch ich Geld, aber ich sag dir, ich würde sogar Geld hergeben, um hier mitmachen zu dürfen. Man wird bekannt!

DADA: Bekannt für eine Woche, und dann kommen die nächsten!

MANDY: Na und! Wenigsten kommst du raus, erlebst was.

MARTHA: Was ich nie verstanden habe, ist, warum Menschen sich so etwas ansehen. Es passiert doch meist nichts, die Leute hocken irgendwo rum, plaudern über alltägliche Nichtigkeiten...

MANDY: Also ich hab mir das immer gern angeschaut. Du lernst was! Du siehst, was andere, ganz normale Leute wie du und ich für Probleme haben, und wie sie damit fertig werden.

LEO: Nur, daß wir keine normalen Leute sind.

BERGER: Wie meinen Sie das?

LEO: Du bist Professor...

BERGER: Doktor!

LEO: ...auch gut, Mandy ist eher das antiintellektuelle Trashweib...

MANDY: Hey, hey!

LEO: John ist ein rechter Paramilitär, ich bin ein militanter Linker, Dada eine feministische Lesbe, und Martha...

MARTHA: Ich gebe wohl die Konservative ab, glaube an Gott und an Werte.

DADA: Bist du lesbisch?

MARTHA: Mein Gott, nein!

BERGER: Es ist also alles auf Konflikt angelegt, wir sollen uns gegenseitig die Köpfe einschlagen.

DADA: Damit die Fernsehfurzer was lernen, toll! Nicht wahr, Mandy?

MARTHA: Ich werde keinem den Kopf einschlagen!

JOHN: Jetzt übertreibt mal nicht. Wir sind hier, haben eine nette Zeit, und der Sympathischste von uns gewinnt!

DADA: Kennst du die Spielregeln? Vielleicht siegt ja gerade der Rücksichtsloseste?

LEO: In einem Jahr kann sich viel tun. Und wer weiß, vielleicht fehlt uns ja auch mehr als ein Jahr?

MANDY: Die Shows wurden schon immer verrückter. Was die Leute nicht alles machten, um ins Fernsehen zu kommen. Einer ließ sich mal in ein Dixikloh einsperren und 'nen Berg runterrollen. Die Toilette war natürlich von oben bis unten voll Kacke. Andere fressen Kakerlaken und so Zeug. Einmal hat sogar...

DADA: Sowas scheint dich ja mächtig zu interessieren?

MARTHA: Ich find’s einfach nur eklig!

JOHN: Ist doch geil! Total abgefahren. Kerle machen halt solche Sachen, aus Spaß!

BERGER: Für mich grenzt das an Selbstverstümmelung!

LEO: Wir haben in der Gruppe oft darüber diskutiert, warum Menschen den Mut haben, die verrücktesten Dinge zu tun, was weiß ich, sich an Gummiseilen von Brücken schmeißen und so Scheiß. Aber wenn der Konzern sagt, du arbeitest heute zwei Stunden länger, ohne Lohnausgleich, weil du sonst fliegst, fressen sie’s ohne zu murren.

MARTHA: Ich finde, die Leute haben keine Mitte mehr. Es ist alles beliebig geworden. Sie würden wieder Sinn in ihrem Leben sehen, wenn sie zum Glauben zurückfinden würden.

DADA: Aber Glauben ist doch auch beliebig: Die einen glauben an Wiedergeburt. Die anderen an die Jungfrau Maria oder Außerirdische. Jeder sucht sich was, irgendwas. Und für die einen ist es halt Bungee-Jumpen.

MARTHA: Bungee-Springen als Lebensinhalt? Lächerlich!

BERGER: Ich möchte zwar hier nicht meinen Doktor herauskehren, aber sie haben gerade etwas sehr Richtiges angesprochen. Alle suchen Orientierung. Früher wußte man, wenn der Vater Schmied war, wurde ich auch Schmied. Oben sitzt die Gottheit, unten ist die Hölle. Das heißt, keiner mußte sich Gedanken über seinen Platz in dieser Welt machen. Der moderne Mensch erlebt eine Identitätskrise, weil er zuviele Möglichkeiten hat.

LEO: Quatsch! Was hast du schon für Möglichkeiten: Prostitution oder verhungern! Möglichkeiten gibts nur in der Werbung!

MANDY: Ich mag Werbung. Warum soll man nicht ein wenig träumen. Und die Lügen ja auch nicht. Wenn du ein tolles Auto und ein schickes Haus hast, hast du ja wirklich mehr vom Leben.

 

aus I. Akt, 4. Szene

LEO: Zahlen deine Auftraggeber eigentlich gut?

JOHN: Es geht so. Natürlich bekommst du dreimal so viel, wie mit normaler Maloche.

LEO: Was ja noch immer nicht gerade viel ist.

JOHN: Genau. Manchmal bekommt man schon so 'nen Hals! Einmal mußte ich ein Abendessen bewachen. St. Moritz, im Winter, saukalt war's. Wir standen im Freien und ich konnte durch die Fenster linsen. War wohl eine Art Eheanbahnungsabend. Jedenfalls waren da ein paar total rausgeputzte Gören, mit Krönchen auf dem Kopf...

LEO: Kenn ich, Opernball, Debütantinnen...

JOHN: Ja genau, so waren die ausstaffie...niert. Also diese Mädels machten sich 'nen Spaß daraus, mit Löffeln Kaviar an die Decke zu schnippen. Der pappte dann da. (zeigt die Technik) Wenn der Oberkellner vorbeiging, taten sie ganz unschuldig wie kleine Schulmädchen. Der Kellner ließ sich natürlich nichts anmerken. Die Alten werden's schon bezahlen. Irgendwann fielen einzelne Kaviarkörner wieder runter. Das war dann besonders lustig, wenn's einen traf. Eine richtige Sauerei war das. Und die Alten haben einfach zugesehen.

LEO: Ist wohl so, wenn du alles zahlen kannst, mußt du deinen Nachwuchs nicht mehr gesellschaftskonform erziehen.

JOHN: Glück muß man halt haben und zur richtigen Seite gehören.

LEO: John, im Grunde bist du gar nicht so verkehrt. Wie kommst du nur dazu, dich zum Schutzdienst zu melden?

JOHN: Hab' ich doch schon gesagt, weil die besser zahlen, als alle anderen.

LEO: Aber ihr bringt doch Menschen um! Ihr ermordet Straßenkinder, killt Gewerkschaftler und aufständische Studenten.

JOHN: Das sind wir nicht!

LEO: Komm, bei euch liegen Listen rum, da steht genau drauf, wieviel es für ein abgestochenens Straßenkind gibt!

JOHN: O.k., ich weiß, das ist Scheiße. Aber so ist es nun mal. Ich will auf der richtigen Seite stehen. Ich will zu den Gewinnern gehören, nicht zu den Verlierern!

 

aus I. Akt, 5. Szene

MANDY: Puh! Jetzt hab' ich Hunger

LEO: Ich schau mal, ob unser Tischlein-Deck-dich schon da war (Er steht auf und geht in die Küche. Dort entdeckt er den Revolver. Er nimmt ihn in die Hand, und schaut, ob er geladen ist. Er ist es.) Kommt doch mal her! Das hier lag auf dem Tisch, ich vermute, statt des fehlenden Essens.

JOHN: Gib mir den Revolver, damit spielt man nicht!

LEO: Warum? Glaubst du, ich erschieß mir damit mein Abendessen?

JOHN: Gib schon her, ich kann mit sowas umgehen!

LEO: Das ist es ja gerade.

BERGER: Meine Herren! Beruhigen Sie sich!

DADA: Ist er geladen?

LEO: Ja, das ist er.

DADA: Dann tu doch die Munition raus!

LEO: (sieht den Revolver an und überlegt kurz, dann macht er, wie ihm geheißen)

MANDY: Wir sollten das Ding kaputt machen!

MARTHA: Gute Idee!

JOHN: Und wenn das zum Spiel gehört? Vielleicht schicken sie uns ein wildes Tier rein. Und was dann? Dann ist auf eure Feigheit geschissen!

BERGER: Bitte mäßigen Sie sich. Aber Sie haben recht. Der Revolver ist ein Zeichen. Wir sollten nichts Unüberlegtes tun.

DADA: Ich schlage vor, wir teilen Munition und Pistole auf, so kann nichts pasieren. Wieviele Kugeln sind drin?

LEO: Es ist keine Pistole, sondern ein Revolver, fast schon antik, mit sechs Kugeln!

DADA: Gib schon her! (Leo gibt ihr eine Kugel)

MARTHA: Ich will keine Kugel, Herr Berger, wollen Sie die für mich aufbewahren?

BERGER: Wenn Sie Wert darauf legen, natürlich.

DADA: (zu Leo) Ich übernehme deine Kugel, dafür behälst du den Revolver

JOHN: Hey, das find ich jetzt aber nicht in Ordnung!

DADA: Sunnyboy, Leo fand den geladenen Revolver, hat uns aber trotzdem nicht gekillt. Mehr Garantie kann zur Zeit keiner von uns bieten!

JOHN: Schon gut. Aber bewach ihn gut!

LEO: Wie meinen Augapfel.

DADA: Und jetzt laßt uns essen! Man stirbt auch an Hunger.

MARTHA: (holt wie selbstverständlich einen zusätzlichen Teller, läßt diesen rumgehen, jeder packt ihr was drauf. Alle essen einige Zeit schweigend) Das Essen wird rationiert, ein Revolver liegt auf dem Tisch, das kann doch nicht die Spielregel sein!

MANDY: Welche Spielregel?

MARTHA: Na, Tod!

MANDY: Du spinnst!

LEO: Sie spinnt nicht, befürchte ich

MANDY: Jetzt hört aber auf!

BERGER: Frau Martha, wie meinen Sie das, die Spielregel sei Tod?

MANDY: Quatsch!

MARTHA: Wir sollen uns gegenseitig umbringen! Das liegt doch auf der Hand! Und der, der überlebt, siegt.

JOHN: Cool!

BERGER: Verzeihen sie, aber hier glaube ich, gehen Sie zu weit. Die Zuschauer wollen unsere Verzweiflung sehen, unsere Angst, ja, unser blankes Entsetzen. Sie wollen eine Katharsis erleben.

MANDY: Eine was?

BERGER: Eine Katharsis. Sie wollen mit uns mitleiden, wollen unseren Schmerz und unsere Angst mitempfinden. Und wenn wir gut sind, fühlen sich die Zuschauer anschließend geläutert und gestärkt.

DADA: Falls ein Happy-End rausspringt.

BERGER: Richtig! Darauf will ich hinaus: Reinigung durch Qualen, nicht durch Tod. Übrigens findet sich dieser Gedanke auch in ihrer Religion, Frau Martha: der Weg zum ewigen Leben ist steinig, steil und eng, aber danach winkt das Paradies.

MARTHA: Bitte vergleichen Sie meine Religion nicht mit diesem dämlichen Spiel hier!

BERGER: Entschuldigung, ich wollte Sie nur beruhigen...

LEO: Außerdem kann auch die Hölle winken!

MANDY: Finde ich lustig, deinen Gedanken. Du glaubst also, den Menschen gehts besser, wenn sie einem zuschauen, der sich in einem verschissenen Klohhäuschen den Berg runterstürzt?

BERGER: Warum nicht, wenn er es überlebt!

JOHN: Hey Berger, du bist echt krass drauf!

MANDY: Hab mal was gesehen, wo einer für ein paar Piepen 'nen Pferdeapfel gefressen hat. Stellt euch vor, der fraß richtige Pferdescheiße! Und ein Haufen Leute stand um ihn herum und applaudierte!

DADA: Mandy, sorry, wir essen gerade...

MANDY: O.k., aber was ich sagen möchte, besser ging's mir nachher nicht, ich mußte voll abreihern.

LEO: Für ein paar Cent verkaufen Menschen ihre Würde! Erinnert mich an eine Aktion, die wir mal machen wollten, in unserer Anfangszeit, als wir noch nicht militant waren.

JOHN: Erzähl!

LEO: Unsere Grundkritik am Kapitalismus ist, daß er riesige Ressourcen vollkommen sinnlos verschwendet. Is' ja logisch. Die Firmen wollen verkaufen, nicht die Menschen versorgen. Sie entwickeln bewußt fehlerhafte Software, Geräte, die kurz nach der Garantiezeit kaputt gehen...

DADA: Komm zur Sache!

LEO: Bin ja schon dabei. Die schlimmste Ressourcenverschwendung ist aber die Vergeudung der menschlichen Arbeitszeit. Du mußt jeden sinnlosen Quatsch machen, damit du nicht absäufst. Um den Leuten dies zu verdeutlichen, wollten wir so 'ne Art Straßentheater machen. Die Teilnehmer bekamen sinnloseste Aufgaben, z.B. 5 Minuten auf einem Bein stehen und ständig "Schneuz" sagen oder "Ratataplomp". Wenn sie die Aufgaben brav erledigten, wurden Sie belohnt, durften auf schönen Stühlen sitzen, bekamen Longdrinks etc. Weigerten oder versagten sie, mußten sie auf Strohballen liegen und kriegten nur Wasser und Brot.

MANDY: Aber das gibt's doch schon. Bei einer der ganz frühen Big Brother-Sendungen wars doch so! Mein Gott, was ich schon alles gesehen haben, gell? Die mußten auf 'nem Trimmdichrad durch 'nen Kontinent radeln oder 'ne handvoll Sand den ganzen Tag rumtragen, und lauter so Quatsch. Mit Kakerlaken war auch was, aber das sag ich jetzt nicht. Und wer versagte, mußte in die arme Hälfte des Containers wandern, mit einem Lagerfeuer statt Herd und Strohballen wie bei euch, und konnte den Reichen zusehen, die Swimmingpool und allen möglichen Luxus hatten.

LEO: Kannst du dir unseren Schock vorstellen, als wir erfuhren, daß es soetwas schon gibt? Im ganz normalen, kapitalistischen Propagandafernsehen!

BERGER: Weil Sie sahen, daß die kapitalistische Ideologie mittlerweile den Status eines Naturgesetzes hat. Sie wird sowenig in Frage gestellt, daß ganz offen hantiert werden kann.

LEO: Perfekt! Ich bin überzeugt, würde ab sofort nur noch gesellschaftlich nützliche Dinge gemacht werden, bräuchten wir täglich nur noch zwei bis drei Stunden arbeiten!

DADA: Stattdessen arbeiten wir 60 Stunden und mehr, weil jeder zu seiner regulären Arbeit noch ein oder zwei Nebenjobs laufen hat, damit er durchkommt.

JOHN: Jetzt kommt wieder auf den Teppich, ihr seid doch plemplem, zwei Stunden arbeiten! Lächerlich.

 

aus I. Akt, 6. Szene

BERGER: Ich glaube nicht an Gut und Böse. Leo und auch Dada haben mich tief beeindruckt. Normalerweise komme ich in meinem wissenschaftlichen Elfenbeinturm kaum mit kritischen Ideen in Berührung. Ich glaube auch, unsere Welt ist im höchsten Maße unvernünftig eingerichtet. Die Unvernunft besteht darin, daß schlechte Charaktereigenschaften gefördert werden. Wer sich durchsetzt, gilt als vorbildlich. Dabei ist er nur rücksichtslos. Ein rücksichtsloser Mensch kann grausamer Diktator oder schrulliger Bildermaler werden. Erst wenn die Gesellschaft rücksichtslose Menschen fördert, diese als Ideal hinstellt, haben wir ein Problem. Ich halte die Menschheit durchaus für fähig, ihre Verteilungsprobleme, hier Hunger, da Überfluß, an einem Nachmittag zu lösen. Quasi im Vorbeigehen. Stellen Sie sich einen vernünftigen Menschen vor, der auf seinem Schreibtisch als Tagesaufgabe vorfindet: Wohlstand für alle. Er wird alle sinnlosen Arbeiten streichen. Zuerst Rüstung. Weg damit! Oh, er sieht, in diesem Land droht eine Hungerkatastrophe. Kein Problem! Dort haben sie zuviele Tomaten, anderswo zuviel Mais, also schickt er diese in die Hungergebiete. Gibt eine prima Polenta. Das verdirbt die Preise? Scheiß auf die Preise! Hier geht es um Menschenleben! Nächstes Jahr schicken wir euch eine Meerwasserentsalzungsanlage. Durch die Schließung der Rüstungsschmieden haben grad ein paar Leute nichts zu tun, die machen die sicher für euch.

 

aus II. Akt, 1. Szene

MANDY: Du meinst, wir sind alle Selbstmörder wie Berger? Jeder darf uns umbringen ?

MARTHA: Ja.

LEO: Nicht jeder. Wir sind die Spieler! Eigentlich genial.

DADA: Was soll daran genial sein?

LEO: Mandy hat uns doch von dieser Big Brother-Serie erzählt. Die Insassen waren eingeteilt in arm und reich. Das war eigentlich noch nicht ganz konsequent. In Wirklichkeit geht es nicht um arm und reich, sondern um Leben oder Tod. Das ist das momentane Gesellschaftsspiel.

BERGER: Herr Leo, ich habe mich heute Nacht etwas von Ihrem revolutionären Elan mitreißen lassen. Aber Übertreibungen helfen uns auch nicht weiter

LEO: 21, 22, 23; 21, 22, 23; 21, 22, 23...

BERGER: Was soll das?

LEO: Nichts. Alle 3 Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung, vielleicht auch schon alle 2 Sekunden, unsere Gesellschaft eintwicklet sich ja. Ein schönes Spiel nicht? 21, 22; 21, 22...

MANDY: Hör auf! Hör auf!

 

aus II. Akt, 2. Szene

DADA: Habe mal als Kind einem Vogel geholfen, war wohl bei seinen ersten Flugversuchen aus dem Nest gefallen, neben der Straße gelandet, vollkommen durchnäßt. Habe ihn nach Hause mitgenommen. Wollte ihm was zu fressen geben, aber er verkoch sich zwischen den Kissen. Aus Langeweile schaltete ich die Glotze ein. Vergaß den kleinen Pipmatz. Als er mir wieder einfiel, war er tot. Ich hatte ihn erdrückt Pause, keiner sagt was Später, in der Schule sollten wir ein Tiererlebnis schildern. Ich erzählte, wie ich einen kleinen, nassen Vogel fand, ihn pflegte und dann fliegen ließ, aus meinen Händen. Er flog schnurstracks, immer Richtung Horizont. Seitdem habe ich diese beiden Bilder im Kopf: ein toter Vogel zwischen Kissen und ein Vogel, der aus meinen Händen zum Horizont fliegt. Flieg, Vogel flieg, habe ich ihm nachgerufen.

BERGER: Was die wohl draußen von uns denken? Ob sie Mitleid haben?

LEO: Sicher haben sie Mitleid. Ganze Tränenbäche sind wahrscheinlich schon geflossen. Ach, was ist die Welt doch traurig! wird immer wütender und dann zappen sie zum nächsten Programm...

 

aus III. Akt, 2. Szene

DADA: Begreifst du nicht! Die hetzen uns aufeinander, die bestimmen die Spielregeln. Wenn wir nicht mitmachen, haben sie keine Macht über uns!

JOHN: Für dein Alter hätte ich dich für weniger naiv gehalten. Glaub mir, die haben jede erdenkliche Macht über dich. Du gehst keinen Schritt, ohne daß die wissen, was du vorhast. Es gibt kein Entkommen. Die Bewachung ist lückenlos. Dieses Spiel hier ist vergleichsweise lächerlich. Du weißt, daß du beobachtet wirst. Das ist ein enormer Luxus. Es geschieht nichts, das nicht mit voller Absicht geschieht. Die Absicht ist, den Menschen zum jederzeit verfügbaren, die minimalsten Kosten verursachenden Arbeitstier zu degradieren. Du tust alles für die Gesundheit deiner Tochter? Wunderbar! Wieder ein Grund mehr, die letzten Reste einer Gesundheitsversorgung abzuschaffen. Du reinigst Toiletten mit den bloßen Händen, wenn's ans verhungern geht? Wunderbar! Also Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, weg damit. Es regt sich Widerstand? Super! Ein Feind! 1000 Kameras auf einen Feind! Ein EKG bitte! Er darf uns nicht vorzeitig wegsterben. Und bitte ins Fernsehen! Ja, so sieht ein Feind aus, verachtenswert, Abschaum, Dreck, Müll. Etwas Schminke bitte, mehr diabolische Lidschatten. Seht, wie wir diesen Feind vorführen. So geht's euch allen, wenn ihr euch nicht benehmt! Ich habe meine Lektion gelernt, ich will auf der richtigen Seite stehen, alles andere hat keinen Sinn, es gibt kein Entkommen. Flieg, Vogel flieg... (setzt den Revolver an, es fällt der entscheidende Schuß. Dada stürzt auf ihn zu und nimmt ihn in die Arme)

DADA: (weint) John, John...


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